Intern
Institut für Musikforschung

Elci Pesrevi 2

Das »Elçi Peşrevi«, 4. Hâne: Tanbûrî İsak
Aus der Handschrift Y.211/9 im Konservatorium der Universität Istanbul

Im Gegensatz zu dem Notenband des kitâb Kantemiroğlus, in dem sich Aufzeichnungen von Instrumentalwerken sowohl der mehterhâne als auch der ince sâz (zierliche Musik), der höfischen Kammermusik, finden, ist Y.211/9 offenbar ausschließlich für den Bereich der ince sâz entstanden. Diese Feststellung ist für den hier untersuchten Gegenstand zuhöchst folgenreich, bedeutet sie doch, daß die ensemblegebundenen Gattungsgrenzen zwischen dem Repertoire der mehterhâne und dem der ince sâz nicht, wie bislang angenommen, fest, sondern vielmehr durchlässig sind. Ebenfalls von genereller Relevanz ist das Faktum, daß bereits zu einer Zeit, als die mehterhâne, die erst 1826, also nach der Entstehung der Handschrift Y.211/9, aufgelöst wurde, noch in vollem Maß ihren funktionalen Aufgaben nachkam, deren Musik unter Auflösung der ihr eigenen Symbolik als repräsentative Staatsmusik auch von der ince sâz gespielt wurde. Die Vermutung, die Metamorphosen des Irak Elçi Peşrevi könnten mit dem Ensemblewechsel in Verbindung stehen, liegt auf der Hand. Dem Gedankengang weiter folgend wäre zu schließen, daß der Musik der ince sâz ein grundsätzlich anderes Prinzip der musikalischen Zeit wie auch der makam-Realisation, die hier das Verfahren der Modellrealisation, dort die Binnenzitattechnik verwendet, zugrundeliegt.

Der Übergang eines Musikwerkes von dem einen Ensemble in das andere wäre folglich verbunden mit einer wesentlichen Verlangsamung der Zeitabläufe, auf deren Basis dann die Um- und Ausgestaltung der melodischen Linie unter Berücksichtigung des Melodiegerüstes der Vorlage geschähe. Weiterhin ist auch die Angleichung der musikalischen Form an das um etwa 1800 übliche Konzept der peşrev-ler der ince sâz zu beobachten.

Es ist eine zulässige Vermutung anzunehmen, daß die in Y. 211/9 vorliegende Bearbeitung des Werkes von dem jüdischen Komponisten Tanbûrî İsak stammt, der nicht nur als Tanbûr-Lehrer des Sultans Selîm III. Zugang zum osmanischen Hof und damit auch zur Musik der mehterhâne hatte, sondern der darüberhinaus auch das 4. hâne des peşrev im charakteristischen Stil der ince sâz neu komponierte.

Die übergreifende Differenzierung der Musik von mehterhâne und ince sâz anhand des Begriffes der musikalischen Zeit erscheint dennoch zunächst nicht unproblematisch, denn das späteste bekannte handschriftliche Notat des Irak Elçi Peşrevi, das schon aufgrund seiner Entstehungszeit keinesfalls zum Repertoire der traditionellen türkischen Militärmusik gerechnet werden kann, übernimmt zwar die melodische Fassung aus Y.211/9, beschleunigt jedoch durch den usul-Wechsel die subjektiv empfundene Zeit, ebenso wie mittels der formalen Verkürzung der gesamte Zeitablauf auf die Hälfte des älteren Notats reduziert wird. Darüberhinaus ist die Übernahme der rhythmischen Struktur des usul in der gestrafften Rhythmisierung der melodischen Linie augenfällig, was ebenso wie die Beschleunigung der musikalischen Zeit bislang als charakteristisch für die Musik der mehterhâne herausgearbeitet wurde. Der scheinbare Wiederspruch läßt sich nur unter Einbeziehung der generellen Wandlungsprozesse des İstanbuler Musiklebens im 19. Jahrhundert auflösen.

Die ince sâz war, wie vielfältig zu belegen ist, zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch die Musik der Oberschicht des osmanischen Reichs. Sie darf schlechthin als Repräsentant hoher höfischer Kultur gelten, an der alle in der Metropole vertretenen Ethien Anteil hatten und zu der auch hohe Staatsbeamte und sogar der Sultan selbst Kompsitionen beisteuerten. Die ince sâz in ihrer höchstentwickelten Form war nie eine Musik für die Öffentlichkeit, sondern wurde stets im privaten Rahmen aufgeführt. Die Musik selbst, dies bezeugen die Texte der beste, nakş und kâr mit ihren betrachtenden, philosophischen Inhalten nachdrücklich, diente neben der Unterhaltung primär der geistigen Erbauung hochgebildeter Musikliebhaber. Für den hier betrachteten Zusammenhang ist die summarische Miteinbeziehung der Vokalmusik der höfischen ince sâz deshalb von Bedeutung, weil auch in ihr, wie in der Fassung des Irak Elçi Peşrevi in Y.211/9, eine stark verlangsamte musikalische Zeit begegnet. Dies ist nicht nur in den gedehnten formalen Strukturen, besonders anhand der eingeschobenen, langdauernden und auf sinnfreien Silben gesungenen Koloraturpassagen, nachweisbar, sondern zeigt sich ebenso in der nahezu auschließlichen Verwendung ausgedehnter usul-Abläufe. So begegnen, um nur ein Beispiel zu geben, in der Vokalhandschrift Y.208/6 im Archiv des Konservatoriums der Universität İstanbul, die noch das Repertoire der höfischen ince sâz überliefert, die usul-ler nîm devîr (18-zeitig), çenber (24-zeitig), devri kebîr (28-zeitig), remel (28-zeitig), darbeyn (30-zeitig), muhammes (32-zeitig), hafîf (32-zeitig), darb-ı fetîh (88-zeitig) und zencir (120-zeitig). Das Fehlen kurzer usul-ler, sofern diese nicht gattungsgebunden, etwa im yürük semâî, verbindlich Verwendung finden, ist charakteristisch und vielfach belegbar.

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